Die Betonburgherren

Seit Mitte der 90er Jahre bauten die Spanier, als wollten sie ihr Land unter Häusern begraben. „Ladrillazo“, Riesenziegel, nannten sie den Boom. Dann kam die Finanzkrise – und nun leben zigtausende von ihnen in halb aufgegebenen Geisterstädten. Umdenken will trotzdem niemand

Wie ein Volksheld sieht Manuel Fuentes nicht aus. Wie er da zusammengesunken hinter seinem Schreibtisch hockt, die Stirn in Falten und die Hände in den Schoß gelegt. „Die versuchen, mich fertigzumachen“, stöhnt er. „Wie soll ich da lächeln?“

Fuentes ist Bürgermeister des Dorfes Seseña, eine halbe Autostunde südlich von Madrid: 9000 Einwohner, geduckte Häuser, kleine Gassen, nichts Besonderes. Doch der 52-Jährige hat es zum bekanntesten Dorfbürgermeister Spaniens gebracht, weil er sich mit einem der mächtigsten Industriellen Spaniens angelegt hat. Einige halten Fuentes deshalb für einen Vorkämpfer der Demokratie. Andere sehen in dem ergrauten Mann mit den traurigen Augen einen Feind des Fortschritts, einen lächerlichen Don Quichotte. Fuentes galoppiert zwar nicht gegen Windmühlen, aber er bekämpft Hochhäuser.

Sie erheben sich fünf Kilometer von seinem Rathaus entfernt aus der kargen Hochebene Castilla-La Manchas: 70 Wohnblocks aus rotem Ziegel, sieben bis zehn Stockwerke hoch, gleich neben einem Abladeplatz für Autoreifen. 400 Millionen Euro hat der Unternehmer Francisco Hernando hier investiert, um einen der größten Wohnparks Europas aus dem Boden zu stampfen. Nun drängt er Fuentes, ihm die Erlaubnis zum Bau weiterer Blocks zu erteilen. Doch der weigert sich, er hält das ganze Projekt für Wahnsinn. Denn: Die „Residenz Francisco Hernando“ ist eine Geisterstadt.

Die Zufahrt führt über eine leere zweispurige Straße mit ausgedehnten Kreisverkehren. Die Bürgersteige sind verwaist, die Erdgeschosse der Blocks zugemauert. Um die Siedlung herum flimmern Brachflächen in der Mittagssonne. Einst sollten hier 13 500 Wohnungen für 40 000 Menschen entstehen. Bis heute sind 5600 Wohnungen fertig geworden. Laut Einwohnermeldeamt leben 2200 Menschen in der Siedlung, keine 1000 Wohnungen sind belegt. Ganze Türme stehen leer – im Dorf munkelt man, sie gehörten Fußballern von Real Madrid, die damit spekulieren wollten.

So ist Seseña zum Symbol für die spanische Immobilienblase geworden, die sich 15 Jahre lang aufblähte und dann spektakulär geplatzt ist. Der Knall hat Spanien in eine der heftigsten Wirtschaftskrisen seiner Geschichte gestürzt. Gleichzeitig hat er Abgründe an Umweltzerstörung und Korruption offengelegt. So, als hätte er es geahnt, stellte sich Manuel Fuentes schon früh gegen das Megaprojekt, das sein Dorf in eine Madrider Schlafstadt verwandelt hätte. „Seseña soll sich entwickeln“, sagt er, „aber geordnet.“ Mit dieser Haltung stand er ziemlich alleine da.

Seit Mitte der 90er bauten die Spanier Häuser, als ob sie ihr Land unter Beton begraben wollten. Zwischen 1998 und 2007 wurden 5,7 Millionen neue Wohneinheiten hochgezogen, allein im Jahr 2005 waren es 800 000 – mehr als in Deutschland, Frankreich und Großbritannien zusammen. Den Bedarf dafür fantasierten auch seriöse Wirtschaftsmagazine herbei.

Ein „Zement-Tsunami“ sei über Spanien hinweggezogen, sagt der Stadtforscher Ramón Fernández Durán. Aber nicht nur die Spanier waren befallen. Auch Engländer, Holländer und Deutsche investierten und spekulierten. Ebenso die großen europäischen Pensionsfonds und die russische Mafia, die in Spanien Schwarzgeld wusch. Sogar viele der 4,2 Millionen neuen Einwanderer kauften sich Wohnungen auf Pump. Das war völlig normal. Miete zahlen gilt in Spanien bis heute als Geldverschwendung. Immobilien hingegen versprachen einen sicheren Vermögenszuwachs. Ihr Wert stieg innerhalb von zehn Jahren um teils 191 Prozent.

Befeuert wurde der Rausch von niedrigen Zinsen und Banken, die bedenkenlos Kredite an Bauunternehmen und Privatpersonen vergaben. „Wir haben die Wohnungen nur so rausgehauen“, erinnert sich der Immobilienmakler Jesús Salvat, der von einem Immobilienkonzern aus Alicante in die „Residenz Francisco Hernando“ geschickt worden ist. Dort sitzt er nun in einem klimatisierten Verkaufscontainer und schaut Filme auf seinem Laptop. „Seit Februar bin ich zwei Wohnungen losgeworden“, sagt er. In ganz Spanien, so schätzt die Gesellschaft zur Taxierung von Immobilienwerten (Tinsa), stehen heute eine Million neue Wohnungen leer.

Und der Preisverfall hat sich auf ein Rekordtempo beschleunigt. Wie die nationale Statistikbehörde INE vergangene Woche bekanntgab, brachen die Immobilienpreise im ersten Quartal im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 7,6 Prozent ein. Experten der spanischen Bank BBVA erwarten sogar einen Preisverfall von 30 Prozent im Vergleich zu den Höchstpreisen, die vor zwei Jahren bezahlt wurden.

In Seseña trieb man den „ladrillazo“, den „Riesenziegel“, wie man den Bauboom heute nennt, auf die Spitze. Am Rande des 800 Jahre alten Ortes wollte Francisco Hernando sein Lebenswerk schaffen. Die Megasiedlung trägt seinen Namen, die Parkanlage hat er nach seiner Frau genannt, inmitten eines Verkehrskreisels thront eine Statue für seine Eltern. Bürgermeister Fuentes findet das unerträglich: „Es sind öffentliche Orte!“

Die meisten Spanier kennen Hernando unter seinem Spitznamen „el Pocero“, der Kanalarbeiter. Denn den Aufstieg zu einem der reichsten Männer des Landes mit einem geschätzten Vermögen von einer Milliarde Euro begann er mit dem Entstopfen von Abwasserrohren unter Madrid. Erst mit 30 Jahren lernte Hernando lesen und schreiben, doch schon als Kind hatte er eine Ader für Geschäfte, verkaufte seinen Nachbarn das Wasser einer nahe gelegenen Quelle. Später kamen die richtigen politischen Freundschaften hinzu. Der füllige vierfache Vater mit der weißen Haartolle hat eine größere Jacht als der spanische König und den modernsten Privatjet der Welt, er besitzt Zeitungen und ein Motorradteam. Insider sagen, dass der 64-Jährige rücksichtslos sei. Stoße er auf Widerstand, zücke er zunächst das Scheckheft; wenn das nichts nütze, begännen die Drohanrufe.

„Es wird viel Gülle über dem ,Pocero‘ ausgeschüttet.“ Andrea und Juan kommen aus Kolumbien. Seit 2002 leben sie in Spanien, im vergangenen Jahr haben sie eine Wohnung in Seseña gekauft: 71 Quadratmeter, 180 000 Euro. „Das war sehr günstig“, sagt Juan. „In Madrid hätten wir mindestens das Doppelte bezahlt.“ Das Paar schaut am Abend in der einzigen Kneipe der Siedlung Fußball. Um sie herum sitzen auffällig viele Einwanderer: Rumänen, Bolivianer, Chinesen. Alle finden, dass „Pocerolandia“ in den Dreck gezogen werde. „Dabei sind die Wohnungen hier nicht von derselben Scheißqualität wie anderswo“, sagt Andrea. Und Juan meint: „Die Ziegel, das Parkett, die Armaturen: alles erste Sahne.“ Bis vor kurzem hat er selbst auf dem Bau gearbeitet.

Wie lange die beiden 26-Jährigen noch ihre monatlichen Zahlungen von 800 Euro an die Bank leisten können? Juan zuckt mit den Schultern: „Ich finde bestimmt bald wieder einen Job.“ Doch das könnte schwierig werden. Hunderttausende Bauarbeiter haben ihre Jobs verloren. Die Arbeitslosenquote ist in Spanien auf fast 20 Prozent gestiegen, Höchstwert in der EU. Andrea arbeitet immerhin noch als Kellnerin. Deswegen denkt das Paar nicht daran, die Wohnungsschlüssel bei der Bank abzugeben und einfach zu verschwinden. Das tun zurzeit tausende verschuldete Einwanderer aus Südamerika und Nordafrika.

In Seseña versucht Makler Salvat nun Kunden mit Rabatten von bis zu 60 000 Euro anzulocken. Doch vergeblich. Die Ablehnung hat auch mit der schlechten Infrastruktur der Siedlung zu tun. Es gibt keinen Supermarkt, keinen Arzt, keine Bahnverbindung, und mitten durch die Siedlung verläuft ein Starkstromkabel, das verlegt werden müsste. Für die Versäumnisse machen alle in der Kneipe Manuel Fuentes verantwortlich. „Er hasst uns“, meint Juan unter Beifall der Umstehenden. „Fuentes, halt’s Maul!“, steht auf einem Schild, das an einem Balkon in der Siedlung befestigt ist. Wenn der Bürgermeister so etwas hört, spielt er am Stumpf seines linken Mittelfingers, den er mit 16 Jahren bei einem Arbeitsunfall verlor. „Hernando hat die Siedlung ohne Infrastruktur gebaut“, sagt er, „unsere Gemeinde hat nicht das Geld, um sich um alles zu kümmern.“

Francisco Hernando trifft sich nur ungern mit Journalisten. Er brüllt kritische Frager schon mal nieder und verfolgt Fotografen mit dem Stock. Deswegen hat er einen prominenten Fernsehmoderator als Pressesprecher angeheuert. Alfredo Urdaci war Nachrichtenchef des staatlichen Senders TVE und gilt als Fan des konservativen Ex-Regierungschefs José Maria Aznar. Als dieser 2005 abgewählt wurde, musste auch Urdaci gehen. Heute liegt sein Büro im Hauptquartier von Hernandos Baufirma auf einer Wiese zwischen dem monumentalen Seseña seines Arbeitgebers und dem verwinkelten Seseña von Fuentes. Der 49-Jährige, strahlende Augen, tadellos sitzender Anzug, jungenhaftes Lächeln, kommt gleich zur Sache. Die Residenz werde schon bald eine lebendige Vorstadt Madrids sein, das werde man ja sehen.

Wie das gehen soll? „Arbeiterfamilien brauchen günstige Wohnungen.“ Außerdem sei die Siedlung das Modell, um die spanische Wirtschaft wieder anzukurbeln: „Der gesamte spanische Boden muss zur Bebauung freigegeben werden.“ Wie bitte? „Richtig. Die Rathäuser sollten nicht mehr mitreden.“

Der spanische Bauboom war eine perfekt geschmierte Maschinerie. Er fand unter Umgehung jeglicher Stadtplanung und Umweltgesetze statt. Fast die gesamte Mittelmeerküste gilt heute als zerstört, ebenso der grüne Gürtel um Madrid. Doch erst jetzt ermittelt die spanische Justiz in Hunderten von Fällen gegen Lokalpolitiker wegen der Erteilung illegaler Baulizenzen.

In Seseña ist das nicht anders. Nachdem Francisco Hernando dort eine Fläche in der Größe von 200 Fußballfeldern erworben hatte, deklarierte der Stadtrat sie in seiner letzten Sitzung vor dem Amtsantritt von Manuel Fuentes um. „Suelo rustico“, also Land, das nicht zur Bebauung freigegeben ist, wurde zu „suelo urbanizable“. Damit war es das Zwanzigfache wert. Doch der Bürgermeister verschwieg damals, dass die Regionalregierung fast 20 Einwände gegen das Bauvorhaben hatte. Sie betrafen die ungesicherte Wasserversorgung in der extrem trockenen Region. Deswegen ermittelt die Staatsanwaltschaft gegen Fuentes’ Vorgänger José Luis Martín. Er ist heute Millionär und behauptet, dass er in der Lotterie gewonnen habe.

Die Korruptionsermittlungen gegen Hernando sind allerdings eingestellt worden. Im Gegenzug hat er Fuentes wegen übler Nachrede verklagt, und der Bürgermeister wurde zu einer Unterlassungszahlung von 133 333 Euro verurteilt. Privatpersonen aus ganz Spanien spendeten das Geld. Von anderer Seite erhält der Bürgermeister Morddrohungen. „Die Anrufer sagen, dass ich auf dem Schafott enden werde.“ Dennoch hat Fuentes sein Leben nicht geändert, fährt täglich mit dem Fahrrad durchs Dorf und hält seine wöchentliche Bürgersprechstunde ab.

Vor wenigen Tagen hat Hernando nun damit gedroht, alle bereits begonnenen Arbeiten abzubrechen und zu verschwinden.
Der Bürgermeister säße dann auf der größten Bauruine Spaniens